Sonntag, 28. Dezember 2025

Rezension: Gruselige Stunden - Kiran Millwood Hargrave

Gruselige Stunden - Kiran Millwood Hargrave
© Dumont
Gruselige Stunden
| Kiran Millwood Hargrave u. a. |

Verlag: Dumont 2025

Seiten: 240
ISBN: 978-3755800545

MEINE BEWERTUNG 
- ★★★
 - 



Wenn Weihnachten frösteln lässt
 
In winterlichen Szenerien entfalten sich sechs unheimliche Erzählungen. Sie handeln von verschneiten Straßen im viktorianischen London über ein düsteres Kloster am Gardasee bis hin zu einem rätselhaften Herrenhaus und einer abgelegenen schottischen Insel. Vergangenes drängt ans Licht, Realität und Fantastik gehen fließend ineinander über. Geheimnisse, Schuld und unerklärliche Ereignisse prägen diese atmosphärischen Geschichten. 

Wenn die Nächte länger werden und der Frost an den Fenstern klirrt, suchen viele nach klassischer weihnachtlicher Geborgenheit. Ich hingegen greife lieber zu Geschichten, die eine leise Gänsehaut hinterlassen. Statt Kuschelatmosphäre bevorzuge ich eine gepflegte Schauerstimmung, die sich langsam entfaltet und unter die Haut geht. Genau deshalb habe ich zur Kurzgeschichtensammlung „Gruselige Stunden“ gegriffen. Das Buch verspricht unheimliche Erzählungen rund um das Weihnachtsfest, und ich war gespannt, wie die verschiedenen Autor:innen dieses Spannungsfeld umsetzen.

Geboten wird eine große Bandbreite an Schauplätzen. Düstere Armenviertel, vereinsamte Inseln und prächtige Herrenhäuser bilden die Kulisse. Jede Geschichte bringt ihre eigene Tonlage mit. Mal lastet eine drückende Atmosphäre über den Seiten, mal sorgen unerwartete Wendungen für Spannung, mal schwingt ein Hauch von Tragik mit.

Den Auftakt macht Kiran Millwood Hargrave mit „Wirt“, einer Erzählung, die ins viktorianische Zeitalter führt. Im Mittelpunkt stehen ein kleines Mädchen und ihr Bruder, die in bitterer Armut in den ärmsten Vierteln der Stadt leben. Inmitten von Elend und ständiger Krankheitsgefahr ist eine kleine Puppe der einzige Lichtblick im Alltag des Mädchens. Parallel dazu lernen wir ein wohlhabendes Ehepaar kennen, das den Verlust seiner Tochter mithilfe von Seancen zu verarbeiten versucht.
Hargrave gelingt es eindrucksvoll, das Leid beider Welten greifbar zu machen. Als sich die Wege der Figuren schließlich kreuzen, entsteht eine Gänsehautstimmung, die lange nachhallt. Auch wenn das Ende für meinen Geschmack etwas zu abrupt ausfällt, hat mich die dichte, bedrückende Atmosphäre beeindruckt.

Mit „Inferno“ von Laura Shepherd-Robinson schlägt die Sammlung leisere, mysteriöse Töne an. Die Geschichte führt an den winterlichen Gardasee, wo der Protagonist Gondolphino auf einer abgelegenen Insel Zuflucht sucht. Der Einstieg ist vielversprechend und von einer geheimnisvollen Spannung geprägt. Leider verliert sich die Erzählung im weiteren Verlauf etwas. Die Handlung wird zunehmend wirr, und da Gondolphino kein besonders zugänglicher Charakter ist, fiel es mir schwer, eine emotionale Verbindung aufzubauen. Trotz des eleganten, bildhaften Schreibstils konnte mich die Auflösung letztlich nicht überzeugen.

Ein echtes Highlight der Anthologie ist „Der Herr des Hauses“ von Stuart Turton. Im Zentrum steht ein emotional distanzierter Vater, der sich einer übernatürlichen Prüfung stellen muss. Dabei erkennt er, was sein Sohn ihm wirklich bedeutet. Die Grundidee erinnert zwar an Ebenezer Scrooge, doch Turton verleiht dem Motiv eine ganz eigene, eindringliche Note. Die Geschichte ist zugleich wunderschön und schmerzhaft, voller leiser Traurigkeit und einer Hoffnung, die sich mutig ihren Weg bahnt. Sie hat mich sehr berührt.

Unangenehm, aber wirkungsvoll ist „Doppelter Faden“ von Imogen Hermes Gowar. Die Protagonistin ist arrogant und behandelt ihre neue Zofe Landry mit offener Herablassung. Diese Giftigkeit durchzieht die gesamte Erzählung und schafft eine beklemmende Atmosphäre. Die Eskalation der Ereignisse ist zwar absehbar, wirkt jedoch konsequent und passend. Ein furchtbarer Charakter, aber eine packende Geschichte über Schuld und Sühne.

Besonders einprägsam blieb mir „Die Salzwunder“ von Natasha Pulley im Gedächtnis. Ein Pfarrer reist auf eine abgelegene Insel, um angebliche Wunder zu untersuchen. Das Eiland scheint fast vollständig aus Salz zu bestehen. Die Beschreibungen eines verlassenen Dorfes und die starke religiöse Symbolik erzeugen eine enorm angespannte Grundstimmung. Auch wenn ich am Ende über einen kleinen Logikfehler gestolpert bin, konnte ich das Buch kaum aus der Hand legen.

Den Abschluss bildet „Verbannt“ von Elizabeth Macneal. Im Mittelpunkt steht ein rachsüchtiger Geist, der ausgetrieben werden soll, doch hinter der übernatürlichen Fassade verbirgt sich das düstere Geheimnis einer Ehe. Dass diese Geschichte auf wahren Begebenheiten beruht, wie man im Nachwort erfährt, verleiht ihr eine zusätzliche, erschreckende Intensität.

„Gruselige Stunden“ ist eine abwechslungsreiche Anthologie, die genau das hält, was sie verspricht. Nicht jede Geschichte konnte mich gleichermaßen fesseln, doch die Sammlung überzeugt durch ihre atmosphärische Vielfalt. Alle, die in der Winter- und Weihnachtszeit lieber eine Gänsehaut als eine warme Decke suchen, hüllt dieses Buch in sanft klirrendes Gruseln ein.
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MEINE BEWERTUNG
★★★

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