© Fischer |
| Adam Higginbotham |
Verlag: Fischer 2019
Seiten: 640
ISBN: 978-3100025388
MEINE BEWERTUNG
- ★★★★★ -
Im April 1986 in Tschernobyl
"Mitternacht in Tschernobyl" zeichnet die Geschichte der größten Nuklearkatastrophe in Europa nach, als am 26. April 1986 Reaktor-Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl explodiert.
Nachdem "Tschernobyl" seit meiner Kindheit als Synonym für Atomkraft-Unfälle und nukleare Katastrophen steht, war es für mich an der Zeit, mich intensiver mit dem Thema zu beschäftigen. Nach einigem Stöbern bin ich auf dieses Werk von Adam Higginbotham gestoßen, der die Katastrophe anhand vorliegender Zeitdokumente, Zeugenaussagen und Interviews aufarbeitet.
Hierzu hat Adam Higginbotham sein Werk in zwei Teile gegliedert.
Im ersten Teil beschäftigt er sich mit der Entstehungsgeschichte der russischen Kernkraftwerke allgemein, erklärt was es mit nuklearer Strahlung auf sich hat und geht über in die Gründungsgeschichte des Kraftwerks Tschernobyl sowie der zugehörigen Arbeiterstadt Prybjat. In Zuge dessen wird die Chefarchitektin vorgestellt, sowie erläutert, wie die Stadt aufgebaut ist und funktioniert.
Danach stellt sich die Katastrophe ein, die von 25. bis 27. April 1986 ausgiebig dargelegt wird.
Der zweite Teil setzt sich mit direkten und langfristigen Folgen des Unfalls auseinander. Higginbotham zeichnet den Weg der nuklearen Wolke nach, die sich einer ausgiebigen Reise über Europa erfreute. Sie sorgte zumindest dafür, dass der restlichen Welt auffiel, dass von Russland bzw. der Ukraine Verstrahlungsgefahr droht. Weiters geht der Autor auf das China-Syndrom ein, welches mir bis dahin völlig unbekannt war und absolut plausibel erscheint. Zuvor hätte ich nicht bedacht, dass ein Reaktor auch nach unten schmilzt. Die Aufräumarbeiten werden nachvollziehbar beschrieben und es wird erklärt, wie der erste Sakrophag entstand, der die Welt vor weiteren Strahlen aus Reaktor-Block 4 schützt.
Es gab einiges zutun, worüber man gar nicht erst nachdenken will. Hunderte Menschen krempelten die Ärmel hoch und stellten sich, teilweise bewusst, der Möglichkeit eines qualvollen Todes, weil sie entweder keine Wahl hatten oder es für ihre Pflicht hielten.
Folglich werden die Ereignisse in Krankenhaus Nummer Sechs dargestellt, wo die Verstrahlten behandelt wurden. Die Folgen der Strahlung haben mich erstaunt. Ich wusste, dass es sehr schlimm ist und dennoch haben sich viele Jahre später einige Betroffene einer angeschlagenen, aber vergleichsweise guten Gesundheit erfreut. Hier unterstreicht der Autor vor allem, dass die Auswirkungen der Atomkraft auf Organismen bis dato wenig erforscht sind. Während eine Vielzahl stirbt, kommt es angeblich vor, dass andere Lebensformen, wie z.B. Wildschweine, prächtig gedeihen. Ein Fragezeichen für viele, die sich mit dem Thema auseinandersetzen.
Der anschließende Prozess und das weitere „Leben“ des Reaktors sowie des Atomkraftwerks werden ebenfalls ausführlich beschrieben.
Durchzogen sind beide Teile vom politischen Hintergrund rund um die UdSSR. Adam Higginbotham schildert ausführlich, welchen Beitrag das System der Sowjetunion zur Katastrophe leistete. Korruption, Angst und fehlgeleitete Planwirtschaft beuteten Ressourcen und Bevölkerung soweit aus, dass eine Fehlentscheidung zur nächsten führte und die Bewältigung dieser in den Mühlen der UdSSR sehr langsam in die Gänge kam. Gleichzeitig wird gezeigt, dass Russland Gigantisches bewegen konnte, als es die Folgen des Unfalls abzuarbeiten galt.
Mir war es zu viel an politischen Hintergründen und der Umfang an Personen war für mich bald unüberschaubar. Zwar hat der Autor für die bessere Nachvollziehbarkeit ein Personenregister erstellt, doch das hat mich wenig unterstützt.
Die wirtschaftlichen, politischen und technischen Hintergründe sind ausgezeichnet beschrieben und gewissenhaft recherchiert. Der Autor führte persönliche und telefonische Interviews, um den Hergang sauber abzubilden. Die Chronologie der Ereignisse ist besonders im ersten Teil nachvollziehbar gestaltet, im zweiten Teil verliert sie sich aufgrund der Komplexität der Ereignisse.
Gewünscht hätte ich mir, mehr Bezug zu den beteiligten Personen und eine Schilderung ihrer Sicht und Wahrnehmung der Katastrophe vom 26. April 1986 im Atomkraftwerk Tschernobyl.
„Mitternacht in Tschernobyl“ ist ein ausgezeichnet recherchiertes Werk, welche besonders die politischen Rahmenbedingungen der Katastrophe in Reaktor-Block 4 darstellt und beschreibt, was damals geschehen ist.
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MEINE BEWERTUNG
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